Letzte Ausfahrt NewTown (das Original)

DarkHasi_dopingAuch Radhasi muss Enttäuschungen verkraften. Solche Tiefschläge erweisen sich oft als eine Quelle der Motivation. Diese scheint auch dann nicht zu versiegen, wenn es an die absoluten Grenzen geht: An die Grenzen der Vernunft, der Gesundheit und des ganz normalen Radlerwahnsinns.

Da steht es nun, mein nagelneues Rennrad, ausgestattet mit edlen Record-Teilen und Ksyrium ES-Laufrädern. Natürlich! Es gibt leichtere Laufräder, auch Schlauchreifen auf Carbonfelgen wären eine Möglichkeit, allerdings sind diese „Experimente“ oft mit einem Defektrisiko behaftet, ein Risiko, das ich nicht eingehen möchte. Es geht ja immerhin um etwas. Ich habe zwar lange mit der Anschaffung dieser Maschine gewartet, denn wenn man schon als „Junger“ einen Mercedes SL 600 fährt, beraubt man sich jeder Steigerungs- möglichkeit, aber diese Saison wurde der Upgrade wirklich notwendig. In der Vergangenheit bestritt ich alle erdenklichen Marathons und Radrennen, sogar 24-Stunden- Events standen am Programm. Gemeinsame Ausfahrten waren für mich nie ein Thema, zu oft wird dir in der Gruppe ein elend langsames Tempo aufgezwungen, alle paar Minuten muss ein Athlet urinieren oder fährt sich einen Platten ein, und zwischendurch führen wir vielleicht noch ein Pläuschchen an der Tankstelle oder gehen auf ein Eis. Nein danke, das hat absolut keinen Trainingswert für einen ambitionierten Fahrer wie mich.

„Ambitioniert? Da musst du mal bei einer Newtown-Ausfahrt mitfahren, dann weißt du, was ambitioniert bedeutet“, belehrte mich ein Kollege. „Einmal im Jahr findet diese Tour im Süden statt, da musst du dich richtig anhalten – das ist nichts für Warmduscher.“

Nun gut, dachte ich mir, das klang in der Tat interessant, und so nahm ich letztes Jahr an dieser Ausfahrt teil. Nach zwei Stunden riss ich aufgrund eines Schaltfehlers am Berg ab und konnte zur Gruppe nicht mehr aufschließen. Niemand wartete auf mich, meine Rufe blieben ungehört, es blickte sich nicht einmal wer um. Auch davor spielten sich schon Dramen ab, aber lassen wir das. Es war ein bitterer Tag in meiner Rennfahrer-Karriere und ich schwor mir, dass so etwas nie wieder passieren dürfe. Seit diesem Tag trainierte ich noch härter, kündigte meinen Job zugunsten eines langen Trainingslager-Aufenthalts und ließ mich von meiner Frau scheiden – oder war es umgekehrt? Egal! Sie bekam meinen Mercedes, die Kinder, das Haus, und ich kaufte mir, genau, das Simplon Pavo. Und da steht es nun …

Besser zu früh als zu spät
Das Jahr ist um, nur mehr wenige Stunden bis zur gemeinsamen Ausfahrt. Wie vor der entscheidenden Tour de France-Etappe prü fe ich sorgfältig das Material. Sind die Bremsen gut eingestellt, weisen die Reifen verdächtige Spuren auf, ist die Kette geschmiert und arbeiten Umwerfer und Schaltwerk einwandfrei? Außerdem lege ich ausreichend Powergel, Riegel und die gefüllten Trinkflaschen zurecht – alles muss perfekt sein. Ein Reserve-Laufradsatz geht auch mit auf die Reise. Rein zur Vorbeugung, nicht dass sich kurz vor der Abfahrt ein Defekt einstellt und das Projekt zum Scheitern bringt.

Treu dem Motto „Besser zu früh als zu spät“ fahre ich rechtzeitig los und nehme die letzte Ausfahrt Newtown auf der Südautobahn. Einige Minuten später erreiche ich den Treffpunkt, wo bereits hektisches Treiben herrscht. 26 Teilnehmer, inklusive mir, allesamt damit beschäftigt, ihre Räder zusammenzubauen, in die Vereinspanier zu schlüpfen, Getränke zu mixen, die Tachometer zurückzusetzen und zu meditieren. Jedenfalls scheint es so. Nach Abschluss sämtlicher Vorbereitungen kehrt eine idyllische, aber geheimnisvolle Ruhe ein, die Menschen krallen sich an ihre Lenker, starren auf die Vorbauten und klicken geistesabwesend in ihre Pedale ein und wieder aus, ein und aus, ein und aus und verhalten sich auffällig unauffällig. Plötzlich wird die Stille durch die Frage eines aufgeregten Athleten unterbrochen: „Hat zufällig jemand ein zweites Paar Schuhe in Größe 43 mit?“ Wie erwartet folgt keine Antwort. Er hat wohl die Rennradschuhe zu Hause vergessen, ein Klassiker. Natürlich hat irgendjemand ein zweites Paar 43er mit, aber sind wir uns ehrlich, wer borgt einem Fremden seine Schuhe. „Willkommen im Drop Out“, denk ich mir und verstecke meine Reserve-43er im Kofferraum.

Nur mehr eine Minute bis zur Abfahrt und ein bis dato unbekannter und gut gelaunter Rennradler beginnt sich auszuziehen. „Ich schlüpf schnell in mein Kurzarm-Trikot“, meint er überzeugt. „Na, der hat Nerven“, denk ich mir und die Uhr schlägt halb elf. „Foahr ma!”, schreit der Sheriff und ein Tross von 24 Radlern setzt sich blitzschnell in Bewegung. Die gute Laune des Rennradlers schlägt in Panik um, er versucht sich schneller umzuziehen, schmeißt sein Rennrad um, vergisst den Autoschlüssel samt Helm am Fahrersitz, drückt den Knopf nach unten, schlägt die Türe zu und versperrt sein Hab und Gut. Game over!

Der belgische Kreisel
In Zweier-Formation und gemäßigtem Tempo geht es quer durch die Innenstadt. Mein Pulsmesser zeigt 145 Schläge. Als die Verkehrsampel einer mächtigen Kreuzung gelb zu blinken beginnt, wird erstmals so richtig angedrückt. 21 Fahrer kommen noch bei Dunkelgelb über die Straße, einer wird von einem schwarzen Honda Civic angefahren, ein weiterer leistet Erste Hilfe und der Letzte bleibt bei Rot stehen. „Adieu!“, denk ich mir bei 167 Puls und schiebe mit der Gruppe über die Bundesstraße. In der Ferne sichtet der Sheriff ein Moped, ein guter Grund das Tempo erneut zu verschärfen. 42 km/h zeigt mein Tacho und das Moped rückt langsam, aber stetig näher. Um eine noch höhere Geschwindigkeit zu erreichen, formieren wir uns zu einem belgischen Kreisel, was uns anfänglich auch gut gelingt. Puls 175 bei 46 km/h und wir holen das Moped ein. Leider wird aus der vermeintlichen belgischen Reihe während des Überholmanövers sehr schnell russisches Roulette, das uns weitere vier Teilnehmer kostet.

Wir fahren langsam weiter
Nach dem Massensturz rollt unsere mittlerweile überschaubar gewordene Gruppe in Richtung der Berge. Obwohl die Straßen von Kilometer zu Kilometer schlechter werden und unzählige Schlaglöcher, Scherben und Gesteinsbrocken unseren Weg pflastern, bleibt das Tempo ungebrochen hoch. Da die Hindernisse und Gefahrenquellen von den Führenden nicht angezeigt werden, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein lauter Kracher und ein Hilfeschrei durch das Grupetto fährt. „Ich habe einen Platten“, ruft einer der Athleten verzweifelt. „Wir fahren mal langsam weiter. Du holst uns schon ein“, verspricht der Sheriff, während wir jenseits von 170 Puls und mit 36 km/h in den Berg stechen. Auf den schmerzhaften 18%igen Teilabschnitten zieht sich das Feld weit auseinander und das Stöhnen, Spucken und Ächzen einiger Teilnehmer wird lauter. Allerdings nur anfänglich, mit der Zeit wird es immer leiser, bis es vollständig im Hintergrund verhallt. Schlussendlich kommen neun Teilnehmer gemeinsam am letzten Berg an und machen sich zum finalen Downhill auf. Und ich mitten drin: Das Training des vergangenen Jahres samt meinen Investitionen und persönlichen Entbehrungen hat sich gelohnt. Ich kann mein Glück gar nicht fassen, touchiere in einer sehr engen Linkskurve das Hinterrad eines anderen und mache einen spektakulären Abgang in die Botanik.

Als ich wenig später im Krankenhaus wieder zu mir komme, treffe ich alte Bekannte. Bei Infusionen und Schmerztabletten lassen wir die Highlights der Ausfahrt noch einmal Revue passieren und diskutieren die Schuldfrage der einzelnen Unfälle. In einem Punkt herrscht allerdings Einigkeit: „Wir sind auch nächstes Jahr wieder mit von der Partie.“

erschienen in der Radwelt 03-2007